Angeklagte im Nürnberger Prozess

Nachkriegszeit

Der Nürnberger Prozess

Mit dem Nürnberger Prozess fand erstmals ein internationaler Strafprozess statt, der weit entfernt war von einem Prozess des Siegers über die Besiegten. Diese Idee fand sich 50 Jahre später im Internationalen Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen wieder.

Von Mareike Potjans

Warum ein Prozess?

Als der Nürnberger Prozess am 20. November 1945 begann, waren die drei größten Nazi-Verbrecher schon tot: Adolf Hitler, Reichsführer-SS Heinrich Himmler und Propagandaminister Joseph Goebbels hatten sich selbst umgebracht und sich so ihrer Verantwortung entzogen. Aber auch ohne diese drei Männer auf der Anklagebank schrieb der Prozess Geschichte.

Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hatte eine siegreiche Nation oder ein Bündnis den Verlierer eines Krieges vor ein Gericht gestellt und ihm den Prozess gemacht.

Dass die Alliierten den deutschen Verantwortlichen den Prozess machten, hatte vor allem drei Gründe: Erstens zeigten die Alliierten damit, dass sie nicht dem deutschen Volk als Kollektiv die Schuld für die grausamen Verbrechen Nazi-Deutschlands zuschrieben, sondern einzelnen Handelnden.

Zweitens wollten sie den gerade erst von einer Diktatur befreiten Deutschen anhand eines fairen Gerichtsprozesses zeigen, wie eine Demokratie funktioniert.

Drittens bekam das deutsche Volk zudem im Laufe des Prozesses gnadenlos das ganze Ausmaß von Hitlers Wahn und dessen schreckliche Folgen vor Augen geführt. Viele Deutsche sagten später, sie hätten erst während des Nürnberger Prozesses von den Gräueltaten an den Juden und anderen Minderheiten erfahren.

Angeklagte beim Nürnberger Prozess.

Hermann Göring und Rudolf Heß auf der Anklagebank

Stalin will alle Nazis erschießen lassen

Der Plan, die verantwortlichen Nationalsozialisten vor Gericht zu stellen, stand erst relativ kurz vor Beginn des Nürnberger Prozesses fest und war auch nicht unumstritten: Der britische Premier Winston Churchill wollte die NS-Führung zunächst zu "Outlaws", also zu "Vogelfreien", erklären und auf der Stelle erschießen lassen.

Der sowjetische Diktator Josef Stalin ging bei der Konferenz von Teheran 1943 noch weiter und plädierte dafür, den gesamten deutschen Generalstab – er ging von 50.000 Mann aus – ohne Prozess zu töten.

Auch die Franzosen waren zunächst nicht an einem Prozess interessiert. Sie befürchteten, dass ein solcher auch Mittäter in Frankreich hätte entlarven können.

Erst im Juni 1945 gelang es Robert H. Jackson, dem Richter am Obersten Bundesgericht der USA und späteren Hauptankläger im Nürnberger Prozess, die übrigen drei Alliierten von einem Prozess zu überzeugen.

Im Londoner Abkommen am 8. August 1945 einigten sich die vier Siegermächte auf die Grundregeln für das Verfahren und auf die Anklagten.

In Nürnberg – der Stadt, in der Hitler sich auf seinen Reichsparteitagen inszeniert hatte – sollte die hässliche Seite des Nationalsozialismus gezeigt werden.

US-Chefankläger Robert H. Jackson.

US-Chefankläger Robert H. Jackson

Wer soll angeklagt werden?

Der Prozess in Nürnberg sollte der erste in einer Reihe von Prozessen gegen verantwortliche Nationalsozialisten werden. Doch es kam nur noch zu zwölf Nachfolgeprozessen gegen Ärzte, Juristen, SS- und Polizeiangehörige, Militärs, Manager und Regierungsfunktionäre.

Der Hauptprozess gegen 24 Hauptkriegsverbrecher begann am 20. November 1945, also bereits ein knappes halbes Jahr, nach Deutschlands Kapitulation.

Die Alliierten hatten lange diskutiert, wer auf die Anklagebank gehörte und wer nicht. Die Briten, die dem Prozess ohnehin skeptisch entgegenblickten, wollten die Liste der Angeklagten möglichst kurz halten und nur Ex-Reichsmarschall Hermann Göring, Außenminister Joachim von Ribbentrop, den Arbeitsfrontführer Robert Ley und Rudolf Heß, bis 1941 Hitlers Stellvertreter, anklagen.

Schließlich einigte man sich darauf, die sogenannten Hauptkriegsverbrecher anzuklagen: hochrangige nationalsozialistische Minister, Funktionäre und Militärführer.

Auch Wirtschaftsführer wurden auf die Liste gesetzt. Besonders umstritten waren die Anklagen von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und Konzernchef Gustav Krupp von Bohlen und Halbach.

Viele bezweifeln bis heute, dass sie in die Reihe der anderen Angeklagten gehörten, die teilweise den Befehl zur Ermordung von tausenden Menschen gegeben hatten.

Hermann Göring vor dem Militärgericht.

Hermann Göring vor dem Militärgericht

Drei Plätze auf der Anklagebank bleiben leer

Die Angeklagten mussten sich in vier Punkten vor dem Internationalen Militärtribunal verantworten:

  1. Verschwörung gegen den Weltfrieden
  2. Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskrieges
  3. Verbrechen und Verstöße gegen das Kriegsrecht
  4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Robert Ley, Führer der Deutschen Arbeitsfront, der in allen vier Punkten angeklagt war, entzog sich dem Prozess, indem er sich Ende Oktober 1945 im Nürnberger Gefängnis das Leben nahm.

Auch ein anderer Stuhl auf der Anklagebank blieb leer: Martin Bormann, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP und zuletzt Hitlers rechte Hand, war bei Kriegsende nicht auffindbar und wurde deswegen in Abwesenheit zum Tod durch den Strang verurteilt.

Erst 1972 wurde seine Leiche zufällig bei Bauarbeiten in Berlin gefunden, gestorben war er aber wahrscheinlich schon in den letzten Kriegstagen.

Martin Bormanns Platz blieb leer

Martin Bormann wurde in Abwesenheit verurteilt

Und noch ein dritter Anklagestuhl wurde nicht besetzt: der von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Krupp AG. Mit ihm sollte symbolisch die deutsche Rüstungsindustrie angeklagt werden.

Das Verfahren gegen Krupp wurde allerdings eingestellt, weil er zu krank für ein Verfahren war. So saßen schließlich nur 21 Angeklagte vor Gericht.

Schockierende Filmaufnahmen

Zu Beginn des Nürnberger Prozesses war keiner der Angeklagten bereit, Verantwortung für die Kriegsverbrechen auf sich zu nehmen. Alle bezeichneten sich im Sinne der Anklage als nicht schuldig.

Nach einer beeindruckenden Eröffnungsrede des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson, der zwischen nationalsozialistischen Verantwortlichen auf der einen und dem Großteil des deutschen Volkes auf der anderen Seite unterschied, gestaltete sich der Verhandlungsverlauf vor dem Internationalen Militärtribunal zunehmend langatmig und zäh.

Das lag vor allem daran, dass der britische Richter Geoffrey Lawrence drei Tage nach Beginn des Prozesses anordnen ließ, dass alle Beweismittel im Gerichtssaal vorgelesen werden mussten.

Der britische Richter Geoffrey Lawrence.

Der britische Richter Geoffrey Lawrence

Die Ankläger ließen auch Augenzeugen aussagen – und sie zeigten bewusst schockierende Filmaufnahmen von Gewaltszenen aus dem Krieg. Ihr Sinn lag allerdings weniger darin, als Beweismittel zu dienen.

Sie sollten der deutschen Bevölkerung, etwa über die "Deutsche Wochenschau" in den Kinos, zeigen, welches Unheil die Nationalsozialisten verursacht hatten. Die Aufnahmen von Massenerschießungen, Folterungen und den unglaublich schrecklichen Zuständen in Konzentrationslagern ließen auch die Angeklagten nicht kalt.

Der Generalgouverneur von Polen, Hans Frank, fing nach einer Filmaufnahme aus einem Konzentrationslager an zu weinen, als Gefängnispsychiater Gustave M. Gilbert seine Zelle betrat:

"Wir haben wie Könige gelebt und an diese Bestie geglaubt! Lassen Sie sich von niemandem erzählen, dass sie von nichts gewusst haben.

Jeder hat gefühlt, dass da furchtbare Dinge in diesem System waren, auch wenn wir die Einzelheiten nicht gekannt haben. Man wollte sie nicht kennen. Es war eben zu bequem, oben zu schwimmen und zu glauben, alles sei in Ordnung."

Tatsächlich betonten die meisten Angeklagten immer wieder, von nichts gewusst zu haben und/oder nur Befehle ausgeführt zu haben. Selbst Göring, dem man zweifelsfrei anderes nachweisen konnte, versicherte, er habe die "furchtbaren Massenmorde auf das Schärfste" verurteilt.

Nürnberger Prozesse: Schlussworte der Angeklagten (am 31.08.1946)

WDR ZeitZeichen 31.08.2021 14:41 Min. Verfügbar bis 01.09.2099 WDR 5


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Von Nürnberg nach Den Haag

Am Ende standen elf Todesurteile: in Abwesenheit Bormann, Göring, von Ribbentrop, Rosenberg, Frick, Keitel, Jodl, Kaltenbrunner, Frank, Streicher, Sauckel und Seyß-Inquart. DIe Urteile wurden am 15. Oktober 1946 vollstreckt. Göring hatte sich kurz zuvor mit einer bis zum Schluss versteckt gehaltenen Zyankali-Kapsel selbst das Leben genommen.

Der einstige Stellvertreter Hitlers, Rudolf Heß, der sich vor Gericht höchst verwirrt gezeigt und den sogar die Staatsanwaltschaft für nicht verhandlungsfähig erklärt hatte, wurde zu lebenslangem Gefängnis verurteilt.

Er nahm sich 1987 mit 93 Jahren im Kriegsverbrechergefängnis Spandau das Leben. Drei Angeklagte (Fritzsche, von Papen und Schacht) wurden freigesprochen.

Es dauerte lange, bis wieder ein ähnlicher Prozess stattfand, auch wenn die Anlässe nicht gefehlt hätten. 1993 rief der UN-Sicherheitsrat einen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien in Den Haag ins Leben.

1994 wurde ein Gericht in Arusha, Tansania, eingesetzt. 2002 nahm das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag schließlich seine Arbeit auf. Es kann als Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass die USA heute einer seiner härtesten Gegner sind, während Deutschland es befürwortet.

(Erstveröffentlichung 2013. Letzte Aktualisierung 23.02.2020)

Quelle: WDR

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